- Gottesfriede: Endzeiterwartung und Friedenssuche
- Gottesfriede: Endzeiterwartung und FriedenssucheGegen Ende des 10. Jahrhunderts, in den unsicheren Zeiten, die mit der Ohnmacht der französischen Könige einhergingen, wurden Konflikte in einer Vielzahl von Adelsfehden auf dem Rücken der sozial Schwächsten ausgetragen, anstatt in ordentlichen Gerichtsverfahren beigelegt zu werden. Diese unhaltbaren Verhältnisse, die gerade die sozial benachteiligten Landbewohner stark betrafen, führten in Frankreich zu einer neuartigen Bemühung um Frieden, wobei die Kirche sich anschickte, öffentliche Interessen wahrzunehmen. Unter Berufung auf die Fürsorgepflicht der Bischöfe für die Armen, die Geistlichen und zur Sicherung ungestörter Ausübung von Gottesdiensten begann so der Episkopat Südfrankreichs, ausgehend von der Diözese Le Puy, im Jahre 975 einen allgemeinen Friedensschutz zu organisieren.Hierbei gewährleistete eine erste, ältere Form des Gottesfriedens (»Pax Dei«) zunächst die Sicherheit bestimmter Personengruppen wie der unbewaffneten Kleriker und Bauern, von Frauen, Waisen und Pilgern sowie die Unversehrtheit ihres Besitzes wie Kirchen, Klöster, Häuser, Vieh oder Ernte. Wer in Zukunft Bauern und Armen - was damals alle Waffenlosen meinte - Vieh wegtrieb oder Kirchen plünderte, sollte dem Kirchenbann ebenso verfallen wie derjenige, der einen Geistlichen tätlich angriff; in ähnlicher Weise suchte man bald auch die Interessen von Kaufleuten zu schützen. Zur Durchsetzung der Friedensgelübde wurden Zuwiderhandlungen erstmals 1030 in Aquitanien durch das Interdikt, das heißt den zeitweiligen Ausschluss aus der Kirche, geahndet. Notfalls wurden gegen die räuberischen Adligen und Ritter sogar Milizen aus Armen und Bauern aufgestellt. Bald wurde diese Form des Gottesfriedens aber durch eine zweite allgemeinere Waffenruhe erweitert, die sich auf alle Personengruppen erstreckte, dafür aber nur an bestimmten Tagen galt. Dieser Waffenstillstand Gottes (»Treuga Dei«) untersagte zunächst nur am Wochenende von Samstagnachmittag bis Montagmorgen (bald erweitert auf Mittwochabend) jegliche Austragung bewaffneter Konflikte. Friede musste auch während der großen Festperioden des Kirchenjahres wie Advents- und Weihnachtszeit, Fasten- und Osterzeit, Pfingsten und während diverser Heiligenfeste eingehalten werden.Seit dem französischen Papst Urban II. wurde die Friedensbewegung ebenfalls von der Großkirche unterstützt und gefördert, wie der Sonderfrieden für die Kreuzfahrer 1095 zeigt. Erst im 12. und 13. Jahrhundert klang diese Bewegung langsam aus, nachdem Ludwig VI. die ältere Friedensbewegung bereits durch direkten Kampf gegen die streitenden Adelsparteien beendet hatte; sie wurde vom Landfrieden abgelöst.Obwohl die geistlichen Herren vom Frieden in ihren Gebieten massiv profitierten, scheint die Bewegung insgesamt auch auf Initiative der Bedrückten zurückgegangen zu sein. Dies belegen Parallelentwicklungen zu den Gottesfriedensbemühungen in den Friedensgilden gegen Diebe und Plünderer in London, die um 950 in der Bevölkerung entstanden waren, sowie der gescheiterte Bauernbund in der Normandie 997, in dem sich alle Beteiligten auf wechselseitige Hilfe gegen Übergriffe des Adels verständigten.Offenbar gelang es der Kirche, den aus dem Volk kommenden Friedenswillen zu integrieren und ihm einen organisatorischen Rahmen zu verleihen, stellte doch die »Treuga Dei« faktisch von der Kirche für gesetzmäßig erklärte Gewalt dar. In der Praxis führte dies zu einer ideologischen Gratwanderung, da die Kirche letztlich vom feudalen System profitierte und an seiner Aufhebung kein Interesse haben konnte. Entsprechend erteilte sie auch allen Bemühungen der Bauern um Gleichheit eine Absage und sicherte sich gleichzeitig in der Frage des adligen Gewaltmonopols die Führungsrolle im Widerstand des Volkes, das ohne göttliche Autorisierung weder einen gerechten Krieg führen konnte noch töten durfte.Mit dem gleichen Misstrauen betrachtete die Kirche die volkstümliche Interpretation widriger Umstände, die Fehden, Naturphänomene, Missernten oder Epidemien als Zeichen des nahenden Weltendes und der Wiederkunft des Antichrists deutete. Die Aussagen der Johannesapokalypse oder der Niederschlag der Naherwartung in den neutestamentlichen Schriften mit ihren Hinweisen auf die anbrechende Gottesherrschaft erlebten angesichts der hoffnungslosen Situation weiter Bevölkerungskreise besonders seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine unerwartete Renaissance. Hieß es da nicht im Lukasevangelium, dass etliche von denen, die hier stehen, den Tod nicht mehr schmecken würden (9, 27). Und sprach nicht der 2. Petrusbrief von einem »neuen Himmel und einer neuen Erde« (3, 13), und versprach nicht die Schrift endlich Gerechtigkeit und Rettung angesichts einer Gottesherrschaft mitten unter ihnen (Lukas 17, 21)? In der Apokalypse des Johannes fand man die Anzeichen des Kommens des Reiches Gottes und des Weltendes in allen Details beschrieben. Nun hatte es bereits die Alte Kirche wohlweislich vorgezogen, die Einlösung dieser Versprechen angesichts ihres faktischen Ausbleibens in ein fernes Jenseits zu verlegen. Mit dieser Transzendierung waren sie zwar einerseits theologisch gerettet, zugleich war ihnen allerdings auch die gesellschaftliche Brisanz genommen.Solche theologischen Spitzfindigkeiten waren dem Volksglauben fremd, hatte doch Jesus ausdrücklich ihnen, den Armen, Bedrückten und Ausgestoßenen, eine Hoffnung im Diesseits geben wollen. Und schließlich schienen die Hoffnungen auf Wiederkunft des himmlischen Jerusalem gegen Ende des 11. Jahrhunderts durch die Kreuzzüge und die Eroberung des irdischen Jerusalem endlich auch in greifbare politische Nähe zu rücken. Neben den Katastrophen und Seuchen wie der Pest, die der mittelalterlichen Apokalyptik immer wieder zum Durchbruch verhalfen, fiel diese Bewegung im 12. und 13. Jahrhundert auch bei den neu entstehenden Bettelorden auf fruchtbaren Boden. In der Tradition des Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (✝ 1202) fassten die Franziskaner ihren Orden als Verkörperung des »Dritten Reiches des Geistes« auf; und radikale Gruppen, die sich von dem Orden abgespalten hatten, die Joachimiten und Dolcinianer, wollten dem Armutsideal und damit der Gottesherrschaft durch Morden und Berauben der Reichen gewaltsam zum Durchbruch verhelfen.Dr. Ulrich RudnickGeschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Graz u. a. 31995.
Universal-Lexikon. 2012.